Häufig findet sexualisierte Gewalt im sozialen Nahraum von Kindern und Jugendlichen statt. Da auf allen Veranstaltungen der NAJU die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen eine Atmosphäre vorfinden sollen, in der sie sich wohl, sicher und wertgeschätzt fühlen, bietet diese vertrauensvolle Nähe leider auch Möglichkeiten des Missbrauchs. Die Strukturen der (Jugend-)Verbandsarbeit sind grundsätzlich für Täter attraktiv, weil sie dadurch Zugang zu potentiellen Opfern finden. Deshalb sieht sich die NAJU und der LBV in der Pflicht, Strukturen im Verband zu verankern, um Mitglieder, Aktive und Angebotsnutzer möglichst umfassend vor sexualisierter Gewalt zu schützen und den Umgang mit der Thematik als selbstverständliches Qualitätsmerkmal guter Verbandsarbeit zu etablieren. Die folgenden Zeilen möchten über sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen aufklären und die Folgen für die Kinder, Täterstrategien und Formen der Prävention aufzeigen. Weiterhin werden die innerverbandlichen Strukturen vorgestellt, die geschaffen wurden, um mögliche Täter abzuschrecken, sowie Vorgehensweisen bei Verdachtsmomenten. Aber was wird überhaupt unter sexualisierter Gewalt verstanden?
Definition, Zahlen, Fakten
Sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.
Diese sozialwissenschaftliche Definition bezieht sich auf alle Minderjährigen. Bei unter 14-Jährigen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie sexuellen Handlungen nicht zustimmen können. Sie sind immer als sexuelle Gewalt zu werten, selbst wenn ein Kind damit einverstanden wäre.
Fachpraxis und Wissenschaft sprechen häufig von „sexueller Gewalt an Kindern bzw. Jugendlichen“. Diese Formulierung stellt heraus, dass es sich um Gewalt handelt, die mit sexuellen Mitteln ausgeübt wird. Der ebenfalls verwendete Begriff „sexualisierte Gewalt“ geht noch einen Schritt weiter und verdeutlicht, dass bei den Taten Sexualität funktionalisiert, also benutzt wird, um Gewalt auszuüben.
Zusätzlich wird in Deutschland der Begriff „sexueller Missbrauch“ in der breiten Öffentlichkeit, in den Medien und von vielen Betroffenen verwendet. Auch das Strafgesetzbuch spricht von sexuellem Missbrauch, meint aber anders als der allgemeine Sprachgebrauch damit nur die strafbaren Formen sexueller Gewalt.
Die polizeiliche Kriminalstatistik im Jahr 2019 führte 15.936 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch auf, wobei von einer hohen Dunkelziffer (ca. 10–20-fach) ausgegangen werden kann. Die Täter:innen können allen Altersgruppen angehören, sind zu ca. 80 % männlich und zu ca. 2/3 aus dem bekannten Umfeld. Die Opfer sind Kinder und Jugendliche jeden Alters, am häufigsten Mädchen zwischen 6 und 12 Jahren.
Wo Missbrauch beginnt
Die Handlungen, die als sexuelle Gewalt oder Missbrauch bezeichnet werden, weisen eine große Bandbreite auf. Nicht jede sexuelle Gewalt ist strafbar, aber jede sexuelle Gewalt verletzt Mädchen und Jungen.
Sexuelle Gewalt beginnt bei sexuellen Übergriffen wie verbaler Belästigung (z.B. anzüglicher Witz), voyeuristischem Taxieren des kindlichen Körpers, erzwungenes Nacktbaden, aber auch flüchtigen Berührungen des Genitalbereichs oder der Brust über der Kleidung. Passiert die Berührung aus Versehen, spricht man nur von einer Grenzverletzung, die mit einer Entschuldigung aus der Welt geschafft werden kann.
Um strafbaren Missbrauch handelt es sich, wenn sexuelle Handlungen am Körper des Kindes stattfinden oder der Täter sich entsprechend anfassen lässt, z.B. Zungenküsse gibt, sich vom Kind befriedigen lässt, Anfassen von Genitalien. Zu den schweren Formen zählen Vergewaltigungen aller Art: vaginal, oral, anal. Es gibt auch Missbrauchshandlungen, die den Körper des Kindes nicht direkt einbeziehen, z.B. wenn jemand vor einem Kind sich exhibitioniert oder dem Kind gezielt pornografische Darstellungen zeigt.
Differenzierung der Sexuellen Gewalt:
grenzverletzend | übergriffig | nötigend/missbrauchend |
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Wer sind potentielle Opfer?
Sexualisierte Gewalt ist kein „zufälliges“ Geschehen, sondern zumeist Ergebnis eines strategischen Vorgehens: Täter(innen) suchen zielgerichtet den Kontakt zu potenziellen Opfern und wenden spezielle Vorgehensweisen an, um nicht entdeckt zu werden. Oftmals werden Kinder und Jugendliche ausgewählt, die gesellschaftlich weniger integriert sind, oder auch Menschen mit Behinderung oder Menschen, die größerem Druck ausgesetzt sind und wenig über ihre Rechte wissen. Besonders gefährdet sind diejenigen, die
- nicht gelernt haben, „Nein“ zu sagen;
- nicht gelernt haben, ihren Gefühlen zu trauen und/oder diese auszudrücken;
- zu wenig Respekt und Vertrauen erfahren haben;
- in Krisensituationen stecken;
- in emotional kalten Lebenssituationen aufwachsen;
- wenig enge Sozialkontakte haben.
Erkennen, dass ein Kind oder Jugendlicher betroffen ist
Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf Dinge, die ihm unangenehm sind. Dadurch ist es schwer, ein Missbrauchsopfer direkt zu erkennen. Oft erzählen Betroffene sexualisierter Gewalt nur bruchstückhaft über ihre Erlebnisse, da die richtigen Worte fehlen, um das Geschehene zu beschreiben. Zuverlässigste Quelle ist der spontane Bericht der Betroffenen selbst, wobei Formulierungen noch so abstrakt sein können. Das Thema ist mit Schuld, Peinlichkeiten und Tabus belegt und erfährt selbst in unserer heutigen Gesellschaft immer noch eine Tabuisierung. Die größte Angst der Betroffenen ist oftmals nicht die Angst vor dem Täter selbst, sondern vielmehr vor den Reaktionen ihres Umfeldes. Nichtsdestotrotz reagieren Betroffene meist mit Formen des Widerstandes. Widerstandsformen und somit mögliche Anzeichen sexualisierter Gewalt können dabei unterschiedlichster Art sein und sich teilweise sogar widersprechen. Deshalb lässt sich kein eindeutiges Symptombild erkennen, vielmehr können wir nur Anzeichen benennen, die uns genauer hinschauen lassen sollten, wie z. B.:
- Nervosität und Konzentrationsstörungen
- Selbstverletzung des Körpers (Haut einritzen, verbrennen)
- Einnässen/Einkoten
- Angst und Panikgefühle (z. B. vor Männern, im Dunkeln)
- Übelkeit/Erbrechen oder andere Essstörungen
- Das Verhalten ändert sich grundlegend (Aggressivität, Wutanfälle oder völliger Rückzug).
Besonders zu beachten ist, dass Männer und Frauen unterschiedlich mit ihren Ängsten umgehen. Während Männer und Jungen meist ihre Aggressionen nach außen richten, leiten Frauen und Mädchen diese nach innen, z. B. in Form von selbstverletzendem Verhalten.
Potentielle Täter/innen erkennen
Täter und Täterinnen bereiten ihre Tat gezielt vor. Es wird sogar im Vorfeld meist über einen längeren Zeitraum eine Beziehung zum Betroffenen aufgebaut, bevor es zu ersten sexuellen Übergriffen kommt. Da Täter und Täterinnen so eine Vertrauensbasis zu dem Opfer, dessen Eltern und auch im Bekannten- oder Freundeskreis aufgebaut haben, sind Drohungen und körperliche Gewalt oftmals nicht nötig, um ein Schweigen der Betroffenen zu erreichen. Durch das Eindringen in das soziale Umfeld der Betroffenen und die dortige Integration wird es dem missbrauchten Kind oder Jugendlichen zusätzlich erschwert, den Missbrauch offenzulegen. Täter und Täterinnen erschaffen oftmals auch Situationen, in denen sie mit Kindern/Jugendlichen allein sein können, dabei wird der Widerstand gegenüber sexuellen Handlungen mittels emotionaler Zuwendung, Geld oder Geschenken unterbunden und das „mit-Schuld-sein-Denken“ der Betroffenen zusätzlich verstärkt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass laut Täter und Täterin immer das Opfer die Schuld trägt, da es z. B. provokant angezogen war. Je mehr die Schuldgefühle verstärkt werden, desto weniger besteht Gefahr, dass das Opfer den Missbrauch offenlegt. Des Weiteren kommt es zu einer Verschiebung des Grenzbewusstseins der Betroffenen und der Umgebung durch den Täter oder die Täterin, die meist besonders körperlich betont sind. Es wird z. B. versucht, körperliche Zärtlichkeiten einzuführen, die normalerweise nicht als angemessen empfunden werden. Den Kontakt zu Täter oder Täterin brechen besonders selbstbewusste Kinder und Jugendliche ab - jedoch auf ihre eigenen Kosten, da sie z. B. ihren Lieblingssport oder die Gruppenmitgliedschaft aufgeben müssen. Täter und Täterinnen sind schwer zu erkennen. Verraten können sie sich u. a. durch permanente Missachtung der Grenzen von Kindern und Jugendlichen, gezielte Isolation eines Kindes, Erzählen von unangemessenen sexistischen Witzen oder die Herstellung von sexualisierten Situationen.